Rixdorf ist 1912 am Ende
Rixdorf ist nicht mehr. Der Germana Esperantisto von 1912 berichtet, daß sich die Esperanto-Gruppe am 30. Januar 1912 umbenannt und einen neuen Vorsitzenden gewählt hat. Es handelt sich um den Lehrer Wilhelm Wittbrodt, der erst 1909 Esperanto gelernt hat und noch als Schulreformer von sich reden machen würde. Die Umbenennung sei notwendig geworden, weil die Stadt seit dem 27. Januar 1912 (Kaisers Geburtstag) durch königliches Dekret „Neukölln“ heißt. Das sei auf Wunsch der Bevölkerung geschehen wird behauptet.
Indes war es eher so, daß es sich um einen Schachzug des damaligen Oberbürgermeisters Hermann Boddin gehandelt hat, der seine Majestät solange bekniet haben soll, bis Kaiser Wilhem Zwo die Umbennennung dekretierte. Rixdorf hatte einen ganz schlechten Ruf als „Ballermann des 19. Jahrhunderts“ und das hielt die „besseren Herrschaften“ davon ab, sich hier anzusiedeln und hier Steuern zu bezahlen.
Rixdorf zählte mit einer Viertelmillion Einwohnern zu den einwohnerstärksten Großstädten in Deutschland, war aber im Kaiserreich übel beleumundet.
Das kam von dem Gassenhauer, „In Rixdorf is Musike“, kurz „Rixdorfer“ genannt, der von dem dazu Schieber tanzenden Komiker Heinrich Littke-Carlsen 1889 populär gemacht worden war. Frivole Engtänze waren den Sittlichkeitsvereinen der Kaiserzeit ein Dorn im Auge und 1912 wurde Schiebertanzen polizeilich verboten.
Wie kürzlich gefundene Akten zeigen hat das „Gegen den Willen der Bevölkerung [….] eine kleine politische Clique aus Hauseigentümern und Grundstücksspekulanten im Rixdorfer Magistrat durchgesetzt“ – auch gegen gegen die Stimmen der Sozialdemokraten.
Buntes Esperanto-Leben in Gesamtberlin
In den Industrie-Festsälen fand am 6. Februar die gut besuchte Versammlung der Gesamtberliner Espernto-Organisation statt, die im Januar gegründet worden war. Patentantwalt Schiff stellte Zeitschriften vor, die in letzter Zeit über Esperanto berichtet hatten und Fräulein M. Lindecke trug das „Lied von der Glocke“ vor. Herr P. William las Gedichte von Fritz Reuter auf Platt, die für Zuhörer aus Süddeutschland völlig unverständlich waren. Es schloss sich eine rege Debatte zur Frage, ob es in Esperanto Dialekte gibt, an. Für den 5. März ist die nächste Versammlung angesetzt.
Die „Societo Merkur“ hat mit einem gutbesuchten Esperanto-kurs begonnen.
Herr Parrish, der in Berlin weilt, hat den Stammtisch der Elf am Bülowplatz zu einem Gespräch in munterer Runde aufgesucht. Herr Parrisch stammt aus Los Angeles und wird vom Germana Esperantisto auch auf Seite 40 lobend erwähnt. Er hält Vorträge über Esperanto, die auch in der deutschen Presse vielfach Erwähnung finden.
Es handelt sich um Donald Evans Parrish, der 1908 Esperanto gelernt hat. Im Auftrag der Industrie- und Handelskammer hat er monatelang Europa, Asien und Afrika bereist und auf Esperanto Werbung für seine Heimatstadt gemacht. 1911 ist sein Aufenthalt in Kolozsvar dokumentiert.
Für Parrish war die Tour durch Europa insofern persönlich ein Erfolg, als er eine dänische Braut (Poula E.) aufreißen konnte. Es war eines der ersten Paare, die Esperanto im Familienleben benutzt haben.
Über die Reise von Herrn Parish hat der Germana Esperantisto schon in Januar auf Seite 5 berichtet:
Interesse bei den Studenten
Die Esperanto-Abteilungen der „Freien Studentenschaft“ und „Wildenschaft“ haben in einer gemeinsamen Sitzung ihre Vorsitzenden gewählt. Herr Luczenbacher hat schon im November mit einem Kurs begonnen und die Esperanto-Gruppe Charlottenburg hat dafür ihre Bibliothek mit 700 Bänden zur Verfügung gestellt. Ein Johano oder János Luczenbacher hat 1911 eine Übersetzung von Werken des Schriftstellers Mór Jókai veröffentlicht.
Die Berliner Freistudentischen Blätter Nr. 26 vom 18. Januar haben eine Beitrag mit dem Titel „Studenten und Esperanto“ von stud. phil. E. Vortisch veröffentlicht.
Eine „Katolika Societo Berlin“ hat sich am 29. Januar 1912 gegründet und trifft sich am 2. und 4. Montag im Katholischen Vereinshaus in der Niederwallstr. 11. (Hotel 1. Ranges mit 3 Festsälen, 12 Vereinszimmern und eigener Weinhandlung)
In Weißensee trifft sich die Gruppe jetzt donnerstags im Hotel Berliner Hof am Antonplatz.
Aus Jalta stammt Dr. Ostrovski, der sich längere Zeit in Berlin aufhält, die verschiedenen Gruppen besucht und für Esperanto wirbt.